Kultur in einer der wenigen verbliebenen Oasen der Johannstadt – Die Ballroom Studios

eingestellt am 19.12.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Studio-Atmosphäre in den Ballrooms der Schokofabrik - Foto: Reiko Witzke

Samtbezogene Barhocker, Röhrenradio, erlesen gesammelte Lampenschirme und große Wandspiegel bei indirekter Beleuchtung – ein Inventar, das sinnesfreudig auf die Kunst des guten Klangs einstimmt. Die Studioatmosphäre in den Johannstädter Ballroom Studios bietet mit Teppich-Auslegeware, Retromobiliar und feinen Gardinen ein gemütlich familiäres Flair für professionelle Musikproduktion. Sie gelten als Institution für Kulturaktivismus in der Dresdner Johannstadt. 

Was unter gleichem Namen in Nashville (USA) als gehobene Tanzschule läuft, ist in Dresden, auf der Hopfgartenstraße, ein voll ausgestattetes Tonstudio für Musik- und Videoproduktion, kompetent und technisch vom Feinsten, wie Rezensent*innen der Szene kommentieren. Ballroom-Kultur: Der Name greift in der Johannstadt nostalgisch die Idee der Tanz (und Blumen!)-säle auf, wo Musikkultur einen festen, festlich belebten Ort mitten unter den Leuten hatte.

Johannes Gerstengarbe, der sich als Betreiber der Ballroom Studios für kreative Audio-Kultur einsetzt, hat in seinem Tonstudio sowohl lokale als auch überregionale Musiker*innen vor Ort, die hier mit Gesang und instrumental ihre Arrangements live einspielen. Die Schokofabrik in der Johannstadt und mit ihnen die Ballroom Studios gelten als eine Art Melting Pot – Schmelztiegel – für kreativ und künstlerisch Schaffende: „Eine der wenigen verbliebenen Oasen der Stadt“, wie Johannes Gerstengarbe betont, der für die Dresdner Sound- und Filmszene die Regler schiebt. 

Schräger Ton am seidenen Faden

Erst kürzlich wurde die technische Ausstattung durch neuestes hochqualitatives Equipment erweitert, das im Rahmen des #efre Förderprogramms, also u.a. durch die Stadt Dresden erworben werden konnte. Man buchstabiere sich’s genießerisch – Neumann #u47fet, AMS/Neve 1073 Preamps, Roswell Pro Audio #minik47 Stereopaar – und gebe dem Ganzen Volumen:
Wie handlungsfähig sind derzeit kreativ Werktätige, wenn die Möglichkeiten, Musik unters Volk zu bringen, durch Kontakt- und Veranstaltungsverbote so eingeschränkt sind, daß Einnahmequellen wegbrechen und die Stromrechnung womöglich nur über Erspartes läuft?

Im gegenwärtigen Schwebezustand hängt der Ton wie alle Künste und damit die, die ihr (Berufs)Leben der Kunst widmen, ziemlich schräg am seidenen Faden. Theater, Konzert, Film, Literatur, Gesprächskultur – das öffentliche kulturelle Leben ist komplett ausgebremst und seinem Publikum entzogen. Dem Berufsstand sind Hände und Füße gebunden. Vielen verschlägt es die Stimme. Johannes Gerstengarbe lässt sich das Mikrofon nicht aus der Hand nehmen.

Johannes Gerstengarbe ist Kulturaktivist und Betreiber der  Ballroom Studios. Foto: David Pinzer

MDR live at Ballroom Studios, Johannstadt

In den Ballroom Studios fand die gerade neu erworbene Technik ihren ersten Einsatz für die live übertragene Sendung „Dienstags Direkt“ des MDR. MDR-Moderator Andreas Berger diskutierte vor laufender Kamera in der Johannstadt mit unterschiedlichen Vertreter*innen der Kunstszene: Was sind die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen, wenn die Künste brach liegen?
Inwieweit geraten zur Kunst berufene Menschen durch die gegenwärtigen Veranstaltungsverbote an den Rand und in die Gefährdung ihrer Existenz? 

Wie Kunst- und Kulturschaffende ihre Zukunft sehen, welche Entscheidungen von Politiker*innen zu fällen sein sollten, darüber wurde in den Ballroom Studios gesprochen. Zugleich war das Studio für einen Abend wieder eine Bühne für musikalische live-Darbietungen, was einhellig als emotionales Elixier und Herzenssache befunden wurde. 

Das Abendgespräch in der Johannstadt zeichnete eine vielschichtig, persönlich bewegte Bestandsaufnahme, wie es aktuell um die Kreativszene in Dresden bzw. in Sachsen bestellt ist. Die Sendung ist in erstklassiger Qualität bei MDR Sachsen online hinterlegt.

Lokale Kunst im Heimatsender

Johannes Gerstengarbe war selbst in der Sendung zu Gast und hat Position bezogen: Für mehr Förderung regional produzierender Künste. So warb er direkt im MDR-Gespräch dafür, im „Heimatsender“ MDR öfter auch regionale Künstler*innen in den Sendezeiten einzubeziehen. Auch als Strategie einer Rückgewinnung der Deutungshoheit über den Begriff Heimat. Weiter vertrat er eine co-kreative Haltung, die neue Wege entdeckt: „Kultur ist ja immer eine Auswirkung von Schwingung, gerade bei Musik. Und wo sich Schwingungen gegenseitig beeinflussen, herrscht eine andere Art der Energie.“

Partizipation als Schlüsselwort in der Krise

Innerhalb der Kreativen Szene sind die Ballroom Studios ein vernetzender Pol, an den andere Konzepte andocken können. Die künstlerische Signatur des Studios bezeichnet Gerstengarbe als „ein Pictogramm verschiedener Künste“.
Die Produktionen der Ballroom Culture, für die Johannes Gerstengarbe gemeinsam mit Philipp Brehmer steht, haben den Charakter von Mixed oder Crossed Media: Ton, Bild, Performance und Live act bestehen als eine Vielzahl unterschiedlich verknüpfbarer Möglichkeiten, mit denen sich Inhalte herstellen und teilen lassen.
Die Erkenntnis, dass jedes Werk grundlegend auf viele verschiedene Beteiligte zurückzuführen ist, wird hier zum Bekenntnis. Der Prozess der Zusammenarbeit ist Teil des Werkes, Partizipation das Schlüsselwort für die Krise.

Musikalisch Zeichen setzen

Zuletzt unter Beweis gestellt wurde der Kulturaktivismus in der Johannstadt, als unmittelbar vor dem „lock down light“ zu Halloween die Ton- und Veranstaltungstechnik aus dem Studio ausrückte auf die grüne Wiese um den Bönischgarten. Der vereint auf die Beine gestellte Event brachte das interkulturelle Musikeraufgebot der Banda Internationale und die jungen Steaming Aninmals auf die Bühne. Mit dem Konzert unter Abstandsregeln setzten die Musiker ein musikalisches Zeichen, um in der bevorstehenden gesellschaftlichen Schließ-Zeit Solidarität und Verbundenheit wachzuhalten. 

Der Lockdown hat sich verlängert, der Winter kühlt ab und wird kontaktarm. Für Gerstengarbe heißt das, sich die eigene propagierte künstlerische Haltung vor Augen zu halten: „Diese Art von Energie trägt weiter als in sich gekehrte Schaffenskraft, die ist umso mehr da, wenn man keinen sehen darf.“

Lokal verortet und für alle Griffe bereit. Foto: Reiko Fitzke

Der Winter wird kalt, aber nicht herzlos

Mit jedem Blickwinkel sieht die Antwort anders aus, ob und inwiefern wir vor einem “kulturlosen” Winter stehen: Von den großen Häusern aus betrachtet, herrscht totale Leere, der Zustand reicht von Winterstarre bis Winterruhe. Hier greifen die von Bund und Ländern beschlossenen Einschränkungen und das finanzielle Debakel für Einrichtungen und Ensembles ist manifestiert.
Die Kunst, die vom Betrieb, der sich um sie dreht, abhängt, ist in einen Brachzustand versetzt und erlebt gerade die reale Infragestellung der eigens für sie geschaffenen Räume.


Hinter verschlossenen Türen gähnen weite Hallen und Schätze, die der Wahrnehmung entzogen sind. Zuschauer*innen und Betrachtende bleiben auf die eigenen Wände und die Kommunikation mit nächsten Vertrauten verwiesen. Es kommt zu veränderten Betrachtungsweisen und Aneignungsprozessen. Was bedeutet das für die Kultur? Wo findet die Kunst statt? Wie organisieren sich Kunstschaffende? Dieses Potential ist noch unabsehbar und die gesellschaftlichen Auswirkungen des Ausnahmezustands auch. 

Johannes Gerstengarbe betrachtet die Lage nüchtern: „Die meisten kennen sowieso sich nicht selber, da lohnt es zum jetzigen Zeitpunkt mal zu gucken, wer man selber eigentlich ist.“
Für den ausgebildeten Tontechniker war es ein konsequenter Schritt, nach Jahren der Musikförderung für Andere, jetzt, auf sich selbst zurückgeworfen, der eigenen Stimme auf die Spur zu gehen und seiner Leidenschaft als Songwriter freien Lauf zu lassen.

Don’t give up on me yet

Das einmalige, zeitlich gebundene „Denkzeit“-Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen hat während des ersten lock downs Künstler*innen in ihrer individuellen Arbeitsweise ermutigt und mit einmaliger Zahlung von 2.000€ gefördert. Damit war es Kunstschaffenden in jeglichem Ansatz und Format möglich, kreativ weiterzuarbeiten. Als Denkzeit-Stipendiat hat Johannes Gerstengarbe auf den eigenen Wurf in die Zukunft gesetzt und mit seiner Finanzierung den Song „Don‘t Give Up On Me Yet“ produziert. Ein Projekt, das via Videochat zwischen Dresden und Nashville entstanden ist, wo Gerstengarbe seine Ausbildungszeit in Tontechnik genossen hat.

Das dazugehörige Musikvideo platziert den Song in die Johannstadt: In einer Atmosphäre aus Traum, Vergänglichkeit und Ankommen dient der Trinitatis Friedhof als Kulisse, wechselt in den Garten der Schokofabrik, und zum Schluss ist der architektonische Durchgang des Plattenbaus der WGJ / Wohnungsgenossenschaft Johannstadt auf der Florian-Geyer-Straße verbindender Bildmittelpunkt.

Lokale Kunstförderung

Mit der Kulturförderung ist Gerstengarbe zu seinem coming out gekommen: „So ist Kunstförderung auch unabhängig von einer Pandemie längst vorstellbar!“, sagt Gerstengarbe begeistert und wundert sich, wie weite Schleifen der Förderungsgedanke durch die Institutionen zieht.
Das Wagnis, mit der eigenen Kreativität Geld zu verdienen, verlangt Einiges an Ressourcen ab. Wenn in der (Solo)Selbständigkeit das regelmäßige, einkalkulierte Einkommen wegfällt und jäh die Grenzen des existentiell Tragfähigen aufreisst, ist mehr als guter Rat teuer.

Übergangsweise Finanzierungskonzepte, die das Hilfspaket des Bundes für Kulturschaffende unter Stichworten wie Umsatzeinbruch, Ausfallhonorar, Soforthilfeprogramm, staatliche Überbrückungshilfe, Neustarthilfe, Zuschuss, Ergänzungsleistung vorsieht, kommen gefiltert bei den Künstler*innen an, und sind in Bezug auf das kreative Schaffen nicht immer offen gehalten, sondern immer häufiger an spezielle, zunehmend digitale Praktiken gebunden, wie z.B. livestreams zu produzieren.

Die allermeisten Programme sind limitiert, nicht nur, was Laufzeit und die Finanzierbarkeit an sich betrifft, sondern eben auch, was die Konditionen anbelangt. Die meisten Mittel sind gebunden. An Nachweise sowieso, aber häufig auch an bestimmte Konzepte. 

Klingelschild für Co-Kreativität Foto: Anja Hilgert

Die Chance, gewohnte Praktiken zu ändern

In der Sendung hatte Johannes Gerstengarbe selbst Gelegenheit, drei seiner neuen ersten eigenen Songs zu präsentieren. Das dritte Lied auf deutsch gesungen, bietet, angelehnt an die Beerdigungskultur in New Orleans die symbolische Überwindung des Todes durch Musik dar. Gerstengarbe verweist gern auf den gewissen zeitgenössischen Aktualitätsgrad der Thematik und gibt unverhohlen seiner puren Freude beim Singen Ausdruck.

Die Produktion des deutschsprachigen Songs “Dein Herz steht still“ steht noch aus, genauso wie die Herstellung der Vinyl-Single. Die anfallenden Kosten will Gerstengarbe mit alternativen, mitgliedschaftbasierten Finanzierungsmodellen abdecken, wie sie Plattformen wie patreon.com oder startnext.com propagieren. Für sein Projekt sucht er monatlich einkalkulierbare Unterstützung von privaten Spendern, peu à peu gesammelt in der Crowd. Gleichzeitig handelt es sich um den Aufbau einer treuen Community, der bestimmte Privilegien zuteil werden wie u.a. das Versprechen, einen Song u schreiben, in dem je ein Wort der Unterstützenden einbezogen wird oder ein Platz auf der Gästeliste bei der Release-Party nach Louisianaischer Tradition am 6. März 2021 in den Dresdner Ballroom Studios.

Von Dresden nach Nashville, TN und zurück

Der Finanzierungszeitraum lief über einen knappen Monat, bis 6. Dezember, die Kampagne war erfolgreich, die Durchführung ist gesichert: Bezahlt werden Studiomusiker (ein Schlagzeuger aus New Orleans, ein Bassist aus Nashville und Blechbläser aus Dresden), die Mischung und Mastering, die Covergestaltung sowie die Herstellung der Vinyl-Single. Der gesamte Entstehungsprozess wird mitgefilmt, dadurch transparent und als Video veröffentlicht. Der Realisierungszeitraum ist vom 1. Dezember bis 7. März 2021 angesetzt.

Klingt danach, dass über diesen Winter etwas geht in den Ballroom Studios und von ihnen aus bis Nashville, TN, womit sich Johannes Gerstengarbe einen Traum erfüllt, den er träumt, seit er, musikgetrieben zeitweilig in den Staaten gelebt hat.

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