Damals in der Johannstadt: Der Hauptmann von Köpenick soll hier geübt haben

eingestellt am 19.11.2021 von Philine Schlick, Headerbild: Collage von Heinz Kulb

In seinem sechsten historischen Streifzug durch die Johannstadt geht Heinz Kulb einer uniformierten Schelmengesichte auf den Grund: Der Hauptmann von Köpenick soll nämlich in der Johannstadt zugegen gewesen sein, erzählt ein Schlaufuchs in der Kneipe Holbeinhof …

Dort drüben am Fenster hat er immer gesessen.“ Johannes Wähner, der Wirt vom „Holbeinhof“ an der Ecke zur Fürstenstraße (heute Fetscherstraße) zeigte auf den Platz am Fenster. „Er kam fast täglich rein, trank meistens zwei, drei Bierchen und manchmal auch ein Körnchen dazu.“ Otto Fuchs nickte bedächtig, nahm am vom Wirt gezeigten Tisch Platz und bestellte ein Bier.

Und wie war er so, der Schnitzel?“, nahm er das Gespräch mit dem Wirt wieder auf, als dieser ihm den Gerstensaft hinstellte. „Ja, ja, der Hannes. Leutselig war er, immer ein Späßchen auf Lager. Und erzählen konnte der. Die Gäste hier hingen förmlich an seiner Gusche. Das brachte ihm häufig Spenden ein, ich meine solche in Form von Bier und Körnchen. Er konnte die Leute um den Finger wickeln und war für mich richtig geschäftsfördernd. Aber warum wollen Sie das denn wissen? Wir haben ihn schon ewig nicht mehr gesehen.“

Eindruck schinden in Uniform

Fuchs grinste übers ganze Gesicht, kniff die Augen verschmitzt zusammen und machte damit seinem Namen alle Ehre. „Ich komme gleich dazu. Noch habe ich eine andere Frage. Kam er auch uniformiert hier rein?“ „Oh ja, manchmal. Dann trug er die Uniform eines Kürassiers, angetan mit Helm, Reithosen und Sporen. Dabei hatte er gar kein Pferd dabei.“ Wähner lachte über seinen Witz. Auch Fuchs schmunzelte. „In der Uniform defilierte er mehrfach durchs Lokal und ließ sich bewundern. Eitel war der Hannes schon. Bei manchen schindete er mächtigen Eindruck. Auch hatte er Photographien dabei. Die zeigten ihn in verschiedenen Uniformen.“

Zur Verfügung gestellt von Heinz Kulb

In den Dresdner Nachrichten war Tage später, am 23. Oktober 1906, zu lesen, dass der Herr Soldat, mit richtigem Namen hieß er Johann Georg Wilhelm Schnitzel, geboren 1872 in Schweidnitz, angab, dass er die Reitschule in Hannover besucht habe und nun im Besitz des Zivilversorgungsscheines sei. Das ließ ihn in der Achtung und Anerkennung der Gäste steigen.

Der Wirt brachte Otto Fuchs das zweite Bier. „Nun will ich endlich wissen, warum Sie mich über den Hannes ausfragen. Sind Sie etwa von der Polizei?“ Otto nahm einen Schluck aus dem Glas, atmete genüsslich aus und lächelte den Wirt an. „Nein, bin ich nicht. Sie haben doch schon mal was vom ominösen Hauptmann von Köpenick gehört?“ „Oh ja, das ist der, der der Stadtkasse 4.000 Mark abgeluchst hat. Stand ja ausführlich in der Zeitung. Und was hat das mit unserem Hannes zu tun?“ Einige der anwesenden Gäste scharrten sich um Wirt und Fuchs.

Ein Mann, zwei Namen

Alles oder nichts“, antwortete Fuchs kryptisch. „Ich vermute, dass sich hinter dem Johannes dieser Hauptmann versteckt.“ Der Wirt war sprachlos. Dann schüttelte er den Kopf. „Nee, ne, ne, das glaub ich nicht. Nicht der Hannes.“ Fuchs nickte mit ernstem Ausdruck. „Jetzt brauche ich einen Korn“ und brachte zwei. Dann erzählte Otto Fuchs seine Geschichte.

Fuchs stellte sich als Mitinhaber der Brotfabrik Feronia auf der Gerokstraße 31 vor. Als alle Zeitungen über den Streich in Berlin berichteten veröffentlichten diese auch ein Faksimile der Quittung, die der falsche Hauptmann der Stadtkasse von Köpenick für die beschlagnahmten 4.000 Mark ausstellte. „Und da kam mir die Handschrift des Delinquenten sehr bekannt vor. Ich dachte und dachte und forschte nach und fand schließlich heraus, dass sie zu einem früheren Schreiber des Herrn Rechtsanwaltes Meisel von der Johannesstraße gehören könnte. Ich war damals nämlich Bürovorstand bei diesem Anwalt. Um sicher zu gehen, erbat ich einige Schriftstücke mit besagter Handschrift und verglich beide. Und was kam dabei heraus?“ Fuchs machte eine kleine Pause. Mittlerweise kamen noch weitere Gäste an den Tisch. Der Wirt hielt es nicht mehr aus. „Ich hole eine Runde Bier. Und dann möchte ich es wissen.“ So schnell stand das Gebräu noch nie auf dem Tisch.

Zur Verfügung gestellt von Heinz Kulb

Also … Der Schriftvergleich erbrachte eindeutig die Bestätigung, dass der Hauptmann von Köpenick und unser Hannes Schnitzel ein und dieselbe Person sind.“ In den Dresdner Nachrichten stand später, dass besagter Schnitzel 1899 als Schreiber beim Rechtsanwalt Meisel angefangen habe. „Im April 1900 erbat er sich Urlaub nach Berlin, um dort das Zahlmeisterexamen zu machen und sich im Kriegsministerium vorzustellen.“ Dann kam er nach angeblich bestandenem Examen wieder zurück und kündigte seine Stellung in der Kanzlei zum 1. Oktober, um im Preußischen Kriegsministerium seine neue Stelle anzufangen.

Ein Gauner und Hochstapler

Misstrauisch wurde man erst, als man bei einer Revision einige Unregelmäßigkeiten mit seinem Zusammenhang feststellte. So fehlten Schriftstücke, Belege und Geld. Es wurde nachgeforscht. Im Ministerium in Berlin kannte man keinen Zahlmeister Schnitzel. In einer zurückgelassenen Tasche in der Anwaltskanzlei fand man eine Vorladung vor die Strafkammer des Landgerichts wegen Betrugs und einen Ausmusterungsschein. Ein Raunen ging durch die Reihen der Gäste. Man verlangte nach Bier.

Letzterer erregte Aufsehen, weil sich der Schnitzel stets als früherer Militär ausgab, wie bei euch hier auch“, bemerkte Otto Fuchs. „Meisel erzählte mir, dass das Schnitzelchen sonntags immer als Husarenwachtmeister erschien, als solcher Offizierspferde geritten haben soll und immer zur Rennbahn nach Reick ging. Und wohnen tat er übrigens hier auf der Elisenstraße.“

Dann war der Hannes ein regelrechter Gauner und Hochstapler“, warf der Wirt ein. „Nicht nur was die Uniformen anging“, erwiderte Fuchs. „Er wurde schon mal wegen unerlaubten Tragens einer Uniform verurteilt und in selbiger prellte er sogar eine Dame um die Rückzahlung eines Kredits.“

Eine wichtige Entdeckung

Und?“, fragte der Wirt. „Was und?“ antwortete Fuchs. „Haben Sie das der Polizei gemeldet?“ „Was denken Sie denn. Wir fanden auch noch eine Ansichtskarte von der Neuen Wache in Berlin und eine Photographie von ihm in Uniform. Beides sandten wir zum Polizeipräsidium in die Reichshauptstadt, nachdem ich die hiesige Polizei von meiner wichtigen Entdeckung verständigt habe.“

Und“, fragte der Wirt. „Was und?“, antwortete Fuchs. „Hat man ihn schon gefunden?“ „Nein, noch nicht. Er wird jedenfalls steckbrieflich gesucht.“ So stand es denn auch in der Zeitung. Die Personenbeschreibung des Hauptmanns von Köpenick passe vollständig auf Schnitzel, hieß es dort. Unter zustimmendes Schulterklopfen verließ Herr Fuchs kostengünstig und ziemlich besoffen den Holbeinhof.

Anmerkung des Autors

Über den Schnitzel wurde wirklich in der oben erwähnten Zeitung berichtet. Ob sich tatsächlich ein Zusammenhang zwischen dem Hochstapler Schnitzel (schon der Name ist Programm) und dem Hochstapler Voigt, alias Hauptmann von Köpenick, ergab, ist historisch und juristisch nicht verbürgt. Vielleicht war unser ominöser Teilhaber der Brotfabrik auf der Gerokstraße auch nur ein Hochstapler und guter Geschichtenerzähler, um günstig an ein kostenloses Gerstengebräu samt Schnäpschen zu kommen. Oder der Redakteur der Dresdner Nachrichten hatte gemeinsam mit Herrn Fuchs zu tief ins Glas im Holbeinhof geschaut. Oder die Eulenspiegelei des Autors diente vielleicht auch der Erhellung eines gar zu trüben Novembertages. Nichts Genaues weiß man nicht.

Damals in der Johannstadt – eine Serie von Heinz Kulb

Damals in der Johannstadt: Die Lilien von der Pfote

eingestellt am 05.10.2021 von Philine Schlick, Headerbild: Sportplatz des SV GutsMuts, Pfotenhauerstraße . 79, Postkarte 1925. Bereitgestellt von Heinz Kulb

Sportlich geht es zu in der vierten Folge von Heinz Kulbs historischen Betrachtungen der Johannstadt: Auf den Tag genau vor 108 Jahren wurde “der neue” Fußballplatz an der Pfotenhauerstraße eröffnet – der heutige Platz des SSV Turbine. Das Wetter war mies, die Stimmung euphorisch.

Leider spielte das Wetter nicht mit. Sich wiederholende kräftige Schauer und herbstliche 12 Grad drohten an diesem Sonntag, den 5. Oktober 1913, die lang herbeigesehnte Eröffnung des neuen Fußballplatzes1 an der Pfotenhauerstraße in der Johannstadt zu einem Wasserbad werden zu lassen. Von Altweibersommer war nichts zu spüren. Und dennoch strömten einige tausend Fußballbegeisterte in die neue Spielstätte. Darunter auch, von Mutti gut eingemummelt, Telegrafenmeister Egon Hempel aus der Pfotenhauer 37 mit seinen Söhnen Franz und August. Sie ergatterten günstige Plätze auf den Stehterrassen an der Seite zur Neubertstraße. Das imposante Bürgerhofspital rechts von ihnen wirkte in diesem diesigen Grau des Nachmittags wie ein verwunschenes Schloss aus den Märchen.

Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Foto 1910, gemeinfrei. Bereitgestellt von Heinz Kulb

Gott bewahre!

Wer sind die Leute dort drüben?“, fragte der jüngere August seinen Vater und zeigte auf die gegenüber sich befindliche Tribüne. „Der mit der Federbuschhaube ist der Kriegsminister Generaloberst Freiherr von Hausen. Daneben der schmächtige kleine Herr ist ein Staatsminister. Den Namen weiß ich nicht. Und rechts davon, der mittelgroße Dicke ist der Oberbürgermeister von Dresden, der Geheimrat Dr. Beutler.“ August hakte nach. „Was machen die hier? Spielen die etwa Fußball?“ Egon Hempel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Auch die Umstehenden grinsten. „Gott bewahre. Würden die spielen, wäre das für den Fußballsport eine Blamage. Und für deren Gegner ein gefundenes Fressen. Nein, nein. Die sind hier, um den Platz an unseren SV GutsMuts zu übergeben. Haben ja auch viel Geld dafür ausgegeben.“

Erste Schritte auf dem Rasen

Dann ein Fanfarenstoß und der Vorsitzende des Dresdner Sportvereins GutsMuts, Erich Knebel, begrüßte alle und dankte den Honoratioren aus Stadt und Königreich dafür, aus der alten Radrennbahn eine moderne Fußballspielstätte mit modernem Rasenplatz gemacht zu haben. Eine Spielanlage, die es mit allen Topplätzen in ganz Deutschland aufnehmen könne. Zwischenzeitlich liefen unter dem Beifall der Anwesenden die Spieler des SC GutsMuts und die Gastmannschaft des Berliner Torball- und Fußballklubs Victoria auf.

Schaut mal. Euer Onkel Max spielt auch mit.“ Dabei zeigte Egon auf den blonden Hünen in der Mitte der „Lilien“, dem Bruder seiner Frau. Lilien, so lautete der Spitzname für die Fußballer des SC. Wegen des Wappens und der Farben blau und weiß. Und der neue Sportplatz hieß ganz schnell in der verbreiteten Kürzungsmanie im Volksmund „Pfote“.

Und ich war dabei, als wir 1902 unseren Verein gründeten. Wir, das waren ein gutes Dutzend Pennäler2 vom Kreuzschulgymnasium und ich mit noch einigen Fußballern vom Turnverein GutsMuths Striesen“, erzählte er stolz seinen Söhnen. „Damit der SC nicht mit dem Turnverein verwechselt wurde, ließ man beim GutsMuts des SC einfach das ‚h‘ weg. Die Vereinsfarben blau und weiß kamen vom Mützenband der Schüler des Kreuzgymnasiums. Und das Wappen malte ein talentierter Gymnasiast.“ Anerkennende Blicke erntete er von den aufmerksam zuhörenden umstehenden Zuschauern.

Dresdner Sportverein GutsMuts, gemeinfrei. Bereitgestellt von Heinz Kulb

Einzug in die leere Radsportarena

Wer war denn dieser GutsMuts, Vater?“, fragte nun, etwas mehr interessiert, der ältere Franz. Vater Egon war in seinem Element. Nun konnte er mit seinem Geschichtshalbwissen glänzen. „Der lebte vor hundert Jahren und hieß mit vollem Namen Johann Christoph Friedrich GutsMuths oder so ähnlich. In Quedlinburg soll er geboren sein, war ein Lehrer und ging dann nach Schnepfental in Thüringen und schuf dort den ersten deutschen Turnplatz. Daher auch der Name für den Turnverein.“

Und wo habt ihr Fußball gespielt?“, fragte der Große. „Hier im damaligen Radsportstadion?“ Egon schüttelte den Kopf. „Wo denkst du hin. Erst mal auf verschiedenen Wiesen. Anfangs an der Tittmannstraße, dann durften wir für ein Jahr auf den Sportplatz an der Stübelallee. Dann waren wir auf der Spielwiese drüben bei Anton´s3. Ich schied dann vom aktiven Spiel aus. Die Mannschaft nutzte noch mehrere Jahre die Wiese am Wasserwerk Tolkewitz. Und dann kam uns zugute, dass einige Pennäler von damals studiert hatten und inzwischen gute und einflussreiche Posten bekamen. Die Radsportarena stand inzwischen leer. So nahm man Einfluss auf die Stadt und die Staatsministerien. Und das Ergebnis seht ihr hier.“

SC GutsMuts, Vereinswappen. Bereitgestellt von heinz Kulb

Inzwischen wurden mehrere Hochrufe auf den König, den Kaiser und dem Verein dargebracht. Die Menschen hüpften von einem Bein auf das andere, um sich der nasskalten Witterung zu erwehren und warteten nur noch auf eins: dass endlich das Spiel beginnen möge.

Das Spiel beginnt

Victoria Berlin war nur mit einer abgespeckten Mannschaft angereist. Ihre Toppspieler weilten zum Städteturnier in Wien. Aber sie machten es den Dresdnern trotzdem nicht leicht. Torwart Damsch vom SC GutsMuts bekam reichlich Arbeit und tosenden Beifall für jeden gehaltenen Ball und tollen Abwehrparaden. Und Onkel Max in der Verteidigerposition erhielt anfeuernde Rufe von seinen Neffen für jede Abwehrhandlung. Nach einer Viertelstunde nahm Winkler den Druck von den Lilien und schoss das erste Tor. Das zweite ballerte unter großem Jubel der Star des SC auf der Position des Rechtsaußen im Mittelfeld, Rudolf Leip, ins Netz von Victoria und Büttner machte das Trio zur Pause perfekt.

In dieser besichtigten die Ehrengäste die Gesellschafts- und Unterkunftsräume. Der zweite Vorsitzende vom SC GutsMuts hob dabei hervor, dass der Fußballsport in Dresden immer mehr Anhänger gewänne. Und alles diene der Ertüchtigung der Jugend, erwiderte er unter dem wohlwollenden Nicken des Kriegsministers. Die Mitgliederzahlen im Bereich des Verbandes mitteldeutscher Ballspielvereine4 stiegen innerhalb der letzten 10 Jahre von 8.000 auf 180.000, warf dessen Vorsitzender in die Besichtigungsrunde ein. Auch er wollte der anwesenden Presse zeigen, dass er da war.

Vereinslogo SC GutsMuts. Bereitgestellt von Heinz Kulb

In der zweiten Halbzeit schoss Gäbler gleich zu Beginn Tor vier. Dann wachte Victoria endlich auf und kam zu einem Ehrentreffer. Aber GutsMuts war im Torrausch. Noch dreimal landete der Ball unhaltbar im gegnerischen Tor. Der Platz tobte vor Begeisterung. Durch einen Elfmeter kam Victoria zu einem weiteren Treffer. Am Ende stand es 7:2 für die Dresdner, wie in einem Bericht von der Sportplatzeröffnung in den Dresdner Neuesten Nachrichten am 7. Oktober 1913 zu lesen war. Aber die Berliner grämten sich nicht. Es war ja nur ein Freundschaftsspiel und man gönnte den Gastgebern ihren Sieg. Anschließend feierten beide Mannschaften einträchtig im neuen Vereinslokal bis in die Nacht hinein.

Und Egon Hempel und seine Söhne gingen leicht verfroren aber glücklich den kurzen Weg nach Hause. Das Abendbrot wartete.

Anmerkungen

1In der Literatur und auf Websites der Wikipedia werden verschiedene Eröffnungsdaten präsentiert. Es gab aber nur für den 5. Oktober 1913 belegte Daten der Eröffnung des Fußballplatzes an der Pfotenhauerstraße.

2Ein spöttischer Ausdruck aus der Studentensprache. So bezeichnete man im 18. Jahrhundert die Studenten des ersten Studienjahres, die mit Papier und Schreibzeug jede Vorlesung mitschrieben. Im 19. Jahrhundert wurde es zu einem Schimpfwort für Gymnasiasten, später ein Scherzwort für diese Schüler.

3An der Elbe, unweit des heutigen Fährgartens Johannstadt gelegen. Seit 1898 der Stadt gehörig. Beliebtes Ausflugslokal und später auch Badeanstalt. 1945 bei der Bombardierung Dresdens zerstört.

4Der Verband mitteldeutscher Ballspielvereine (VMBV) umfasste als regionaler Sportverbund etwa die Vereine aus den heutigen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, das damalige Sudentenland sowie einige kleinere Gebiete im heutigen Norden Bayerns, im Südosten Niedersachsens und im Süden Brandenburgs.

Damals in der Johannstadt – von Heinz Kulb

Damals in der Johannstadt: Die liederliche Woche

eingestellt am 23.08.2021 von Philine Schlick, Headerbild: Vogelwiese, Platz vor Schießpavillon, 1899, gemeinfrei https://de.wikipedia.org/wiki/Dresdner_Vogelwiese#/media/Datei:Feria_12_bella_%C3%A9poca_Dresde.jpg

Heinz Kulb widmet sich in Folge 4 der Serie “Damals in der Johannstadt” dem sündigen Ereignis Vogelwiese, der “liederlichen Woche”: Knallerei, Attraktionen und eine Razzia – wieder einmal hat der Autor aus Archiven eine spannende Geschichte zutage befördert.

Wachtmeister Becker blickte entspannt auf das sich beruhigende, stark abflauende Treiben der Vogelwiese an diesem noch jungen Montag des 10. August 1908. Er wartete auf den Höhepunkt der diesjährigen Saison, seinen Höhepunkt. Der war nicht die Kür des Schützenkönigs oder das große Feuerwerk oder die Volksbelustigungen. In den Dresdner Nachrichten der Morgenausgabe war dazu zu lesen: „Um ein Uhr verstummte die Musik auf dem Festplatz. Nachdem alsbald die Lichter verlöscht waren, nahm die Polizei eine Razzia vor und fegte Mann und Maus vom Platze, auf dem nach dieser tollen Woche wieder auf ein Jahr tiefer Frieden einzog.“

Vogelwiese 1909, gemeinfrei
https://de.wikipedia.org/wiki/Dresdner_Vogelwiese#/media/Datei:Dresden,_Sachsen_-_Vogelwiese_1909_(Zeno_Ansichtskarten).jpg

Becker freute sich fast orgiastisch gemeinsam mit seinen Kollegen aus zwei Hundertschaften auf nackte Hintern, die man mit ein paar Striemen mit dem Knüppel verzieren konnte, auf besoffene Penner, die man vor sich herjagte, auf keifende und giftende Damen des horizontalen Gewerbes, die man daran hinderte, zwischen den Buden noch eine schnelle Mark zu machen.

Eine gute Woche Sünde, Vergnügen und Volksablenkung

Und diese, im Volksmund liederlich genannte Woche, begleitete Karl Graupner im Auftrag seiner Redaktion der Dresdner Nachrichten von der ersten Stunde der Eröffnung. Täglich hatte er einen Artikel für die Morgenausgabe und bei besonderen Vorkommnissen auch für die Abendausgabe abzuliefern. Ein anstrengender Auftrag, aber nach seinem Geschmack, bei dem auch immer was für ihn persönlich abfiel.

Die Brauereien und Schausteller buhlten mit Rekorden, Abnormitäten und Verrücktheiten um die Gunst und die Geldbeutel der zahlreichen Besucher. Kaiser Wilhelm Zwei´s größter Soldat, der lange Joseph, gab sich im Festzelt des Augustinerbräu die Ehre. Mit 2,39 Meter übertraf er die sogenannten langen Kerls des preußischen Soldatenkönigs. „Es dürfte sich lohnen, diese lange Sehenswürdigkeit anzusehen, um so mehr, als bei der gewohnten vorzüglichen und dabei preiswerten Bewirtung des Augustinerbräus der Aufenthalt daselbst ein sehr angenehmer ist.“ Graupner stellte sich mit seinen durchschnittlichen 1,72 neben Joseph und kam sich vor wie ein Exponat aus der Gartenzwergfamilie.

Vogelwiese, Eröffnung 1899, gemeinfrei
https://de.wikipedia.org/wiki/Dresdner_Vogelwiese#/media/Datei:Feria_9_bella_%C3%A9poca_Dresde.jpg

Mit allein 43 Transportwagen suchte der Ingenieur Hugo Haase das Gelände auf und errichtete stark bestaunte Attraktionen.

Alle Tanzlokale, Kabaretts und größere Etablissements der Residenz, die was auf sich hielten, waren auf der Vogelwiese vertreten. So feierte auch das Schankzelt Zur Kanone, dessen Inhaber Oswald Remie der Besitzer des Lokals Am Tatzberg war, sein 30jähriges Jubiläum.

Zwei hohe Gerüste gestatteten den Schwindelfreien und Mutigen einen besonderen Blick über das Meer von Buden und Zelten. Graupner ließ sich hier oben den Wind um die Nase und den Alkohol aus seinem Körper wehen. Im Osten erhob sich die Schießhalle der Bogenschützen. Und dahinter ein Panorama einer Alpenlandschaft. In der anderen Richtung Karussell an Karussell, Schaubude an Schaubude, Bierzelt an Bierzelt. Und dazwischen Massen über Massen, Dresdner Familien mit Kind und Kegel, Leute aus der Umgebung und Touristen. Dechants Hypodrom, Fischers Bürgerkasino, eine Erdkugel als Fesselballon, der Albert- und der Carolasalon, in denen das Tanzbein zum Walzer geschwungen werden konnte.

Gleich daneben benebelte ein penetranter Heringsduft von Fisch-Götze die Umgebung. Und auch damals schien die Bratwurst die echte Vogelwiesenspeise zu sein, zumindest behauptete das der Redakteur der Dresdner Nachrichten. Natürlich wurde von ihm auch der Beweis erbracht, dass Sachsen ein Kuchenland sei.

Technische Neuheiten

Schichtl´s Marionettentheater begeisterte nicht nur die Kinder. „Patty´s Kinematograph mit seiner effektvollen Fassade, Reibeholzens Welt-Hypodrom mit seinem Meer von Licht, das Bilder-Lotto-Zelt, das Anatomische Museum, das humoristische Belodrom, die mechanische Schießhalle und andere Attraktionen. … Man kann gar nicht vorbei, man möchte doch so gern einen Blick hineinwerfen“, begeisterte sich Dresdens führende Tageszeitung, bzw. der Redakteur, der schon im Zelt vom Augustinerbräu mächtig zugeschlagen hatte, zumindest was das Hopfenblütengetränk betraf.

Majestät gaben sich die Ehre

Auch Sachsens König Friedrich August III. ließ es sich nicht nehmen, bei der Vogelwiese persönlich vorbeizuschauen. Da ihm seine Gattin noch zu Kronprinzenzeiten abhandengekommen war, sprich mit einem Bürgerlichen durchgebrannte, passte seine älteste Schwester Mathilde auf, dass das Volkstümliche und Biergenießerische bei ihrem Bruder nicht zu sehr zum Vorschein kamen. Nachdem er dem Festschießen nach dem großen Vogel beiwohnte, gönnte sich Friedrich August dann doch noch ein paar Eintritte in Buden und Bierzelte. Übrigens beteiligte sich Mathilde auch am Schießen und schoss laut Redakteur Graupner „einen langen Span herunter, der ihr vom Winde gerade dicht vor die Füße getragen wurde.“

Majestäten anderer Art waren die Schützenkönige, die einer vielhundertjährigen Tradition folgten. Im Jahre 1908 hatte dieses Amt der Hoflieferant Hermann Förster inne. Eine Schützenkönigin gab es übrigens auch. Für ein Jahr durfte sich die Frau Hofjuwelier Jähne erfreuen. Beim Kinderschießen erzielte Hans Ziller den besten Schuss, gefolgt von …, ja von einem Mädchen, der Hilde Fischer.

Antons Luftbad neben der Vogelwiese
aus der Sammlung Treppnau, Johannstadt-Archiv (mit freundlicher Genehmigung).

Ein stundenlanges Spektakel

Das hatte am Freitagabend vor dem Ende der Vogelwiese Tradition und lockte Tausende aus der Residenz und dem umliegenden Lande auf das Festgelände. Straßenbahnen, Pferdedroschken, Autos und die Elbdampfer waren überfüllt. Organisator war der Dresdner Pyrotechniker Heller. Punkt 9 Uhr abends ging es mit drei Böllerschüssen los. Es folgte ein stundenlanges Spektakel. Um es zu beschreiben, reicht dieser Platz hier nicht aus. Die umliegenden Restaurants, wie das Lincke’sche Bad und das Waldschlösschen, machten aus ihrer exponierten Lage ein großes Geschäft.

Das Ende

Das kam dann in der Nacht vom Sonntag zum Montag. Gegen Halb Zwei Uhr erfolgte ein Pfiff und die zwei Hundertschaften mit Wachtmeister Becker begannen fröhlich erregt ihren Höhepunkt, die große Razzia vom Luftbad Antons aus in Richtung Blumen- und Fürstenstraße. Da hatte der Herr Redakteur Graupner schon längst sein Resümee in der Setzerei der Dresdner Nachrichten abgegeben und genoss nun zwei Tage wohlverdiente Ruhe.

Damals in der Johannstadt – von Heinz Kulb

Damals in der Johannstadt: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben

eingestellt am 16.05.2021 von Philine Schlick, Headerbild: Faksimile der Dresdner Neusten Nachrichten. Quelle: Dresdner Nachrichten, 1910/Sammlung: Heinz Kulb

Mit Heinz Kulb hat die Stadtteilredaktion einen erfahrenen Johannstädter Autor gewonnen, der sich auf den Spuren “der ganz normalen Menschen” durch Archive wühlt und mit spitzer Feder den Staub von vergangenen Ereignissen pustet. Nachweisbare Hintergründe, Namen, Ereignisse, Adressen sind unterhaltsam in Geschichten aufgearbeitet und geben so durch das eine oder andere Augenzwinkern den Blick auf einen vergangenen Alltag frei, der an Aktualität oft nichts eingebüßt zu haben scheint. Folge 1: Zusammenleben ist nicht einfach. 

Die Kohlrouladen hatten gemundet. Satt und zufrieden im Sessel am offenen Fenster sitzend, genoss Pensionär Daniel David seinen Verdauerli, einen Kräuterlikör. Der Duft der warmen Maienluft in diesem Frühlingsmittag des Jahres 1910 vollendete sein Wohlbefinden. Sein Geist ließ die Augenlider langsam der Schwerkraft folgen, als er von einem plötzlichen Lärm auf der Straße aus den Armen von Morpheus gerissen wurde.

Mehrere Kinder aus dem Haus und aus der Nachbarschaft hatten sich Rollschuhe angeschnallt und zogen schreiend ihre Bahnen auf dem asphaltierten Stück der Johannstädter Elisenstraße*, zwischen Dürer- und Holbeinstraße gelegen. Mit einem Fluch auf den Lippen und drohender Faust forderte David seine Mittagsruhe ein. Doch die Halbwüchsigen zeigten ihm eine Nase und drehten ihre Kreise weiter. Wütend schloss er das Fenster.

Fotomontage Elisenstraße. Bild: Heinz Kulb

Die Kehrseite des Fortschritts

Erst im vergangenen Herbst erreichte der gegenüber in der Nummer 22 wohnende Asphalthändler Adolf Ebert, dass die Stadt dieses Teilstück der Elisenstraße finanzierte und mit einem Belag von Eberts Firma überzog. Dadurch wurde es ruhiger für die Anlieger. Kein Rumpeln mehr durch die Fuhrwerke auf Kopfsteinpflaster. Nur wenig Lärm durch die neuen Automobile. Die Anwohner waren begeistert. Aber nicht lange. Da entdeckten die Kinder und Jugendlichen den anderen Vorteil der Straße. Mit Rollschuhen konnte man viel Spaß haben, zum Leidwesen der älteren Bewohner. Und es kamen immer mehr Kinder.

Wehret den Anfängen

Und das tat Pensionär David, indem er sich an seine geliebte Zeitung, den Dresdner Nachrichten, wandte. In flinker Schrift auf gutem Papier ließ er seiner Wut freien Lauf. Zunächst beklagte er sich über „das Treppenjagen von oben nach unten, das einen leidenden Menschen zur Verzweiflung bringen kann. Die vierte Etage (im Haus Elisenstraße 23) ist reichlich bevölkert, die dritte dito mit Pensionären von besseren und höheren Schulen, die zweite desgleichen. Sämtliche größeren oder kleineren Kinder jagen täglich wie die Wilden von oben bis ins Parterre.“

Dann kam das nächste Problem, das den ordnungsliebenden ehemaligen Buchhalter eines Ziegelwerkes in Striesen sprichwörtlich auf die Eiche im Innenhof des Carrés bringen konnte. „Ebenso finden es viele Bewohner bequemer, den Aschengrubendeckel mit aller Wucht zuzuschlagen, anstatt ihn am Henkel anzufassen und ruhig zuzumachen.“

Nun kam er zum Höhepunkt seiner Klageschrift. „In der Elisenstraße, zwischen Holbein- und Dürerstraße liegt Asphalt; das ist nun der Tummel-, Spiel- und Lernplatz für Rollschuhläufer sämtlicher Kinder der Umgebung, sieben Tage lang in jeder Woche bis spät in die Nacht!“

Zusammenleben ist nicht einfach

Darauf machte eine Leserin in den Dresdner Nachrichten ein paar Wochen früher als die Veröffentlichung des Leserbriefes unseres Herrn David aus der Elisenstraße aufmerksam. Als sie mit ihrer Familie in eine neue Mietwohnung zog, wurde sie erst einmal misstrauisch beäugt. Anfangs hatten sie viel mit dem Einrichten und weniger mit den Empfindlichkeiten der Nachbarn zu tun. Doch diese begutachteten jeden Schritt der Neuen. Wann sie kommen und gehen. Welche Gardinen an den Fenstern hängen. Mit welchen Möbeln sie einziehen. Wie sie gekleidet sind. Und wie sich die Rotzbengels von Kindern benehmen. In der neuen Wohnung wurde vorgerichtet, gehämmert und Möbel verrückt. Und abends halb Neun wollten sie das letzte Loch schlagen für ein Bild. Und mitten im Hämmern schellte es an der Wohnungstür.

Blick auf den Abschnitt der Elisenstraße heute. Foto: Heinz Kulb

Es war der Hauswirt. „Um Gottes Willen, was hämmern Sie noch so spät? Die Leute nebenan sind gewöhnt, um 8 Uhr abends Schlafen zu gehen. Der Nachbar hat sich beschwert.“ Die beiden Nachbarn „haben noch kein Wort miteinander gewechselt, haben sich noch gar nicht zu Gesicht bekommen und schon besteht eine gegenseitige Verstimmung.“

Andere Mieter klagten über die Rücksichtslosigkeiten ihrer Nachbarn. Da wurde doch schon um neun Uhr vormittags der Teppich im Hof ausgeklopft. Oder wenn die Gattin ihren Schönheitsschlaf braucht, trabten die Obermieter noch vor sieben in Schuhen und Stiefeln umher, weil es zur Arbeit und zur Schule ging. Dafür gäbe es doch Filzpariser für die Wohnung. Ja, so nannte man damals die Hausschuhe. Die Straßenschuhe könnte man ja im Treppenhaus anziehen, so die kritischen Mieter von unten. Und die dünnen Wände gaben stets hörbare Einblicke ins Familienleben. Egal, ob sich die Eltern stritten, die Kinder plärrten oder gerade Kindermachen angesagt war.

Und wie könnte man diese Probleme lösen?

Eine weitblickende, gutbetuchte Dame aus der Dürerstraße schlug den Lesern der Zeitung gleich sogenannte „10 Gebote für Mieter“ vor.

  1. Geht nicht ohne Not in der Wohnung in Stiefeln umher, nicht vor 8 Uhr morgens und nach 10 Uhr abends.
  2. Schließt Türen und Fenster möglichst geräuschlos.
  3. Hämmert nicht vor 8 Uhr morgens und nach 10 Uhr abends an den Wänden.
  4. Beschränkt das Teppichklopfen auf die Zeit zwischen 8 und 12 Uhr.
  5. Musiziert und übt ein Instrument nicht länger als 1 Stunde am Tag und schließt dabei die Fenster.
  6. Lasst bei offenem Fenster kein Grammophon spielen und keinen Papagei schreien.
  7. Rückt nicht die Stühle geräuschvoll über den Fußboden.
  8. Gewöhnt euren Hunden das häufige Bellen ab.
  9. Untersagt euren Kindern das laute Schreien beim Spielen.
  10. Lehrt euren Dienstboten überflüssigen Lärm bei der Arbeit zu machen.

Und wie reagierte das Hausblatt unseres Pensionärs Daniel David aus der Elisenstraße 23 auf seine Anfrage, ob nicht die Polizei wegen der Rollschuhläufer einschreiten könnte? Am 25. April 1910 las er verbissen die Antwort: „Sie könnte wohl, wird es aber kaum tun, da sie ja die Erlaubnis zum Rollschuhlaufen auf öffentlichen Straßen und Plätzen selbst erst erteilt hat.“

*Dieser Abschnitt der alten Elisenstraße ist heute ein Teil der Hans-Grundig-Straße. Der nördliche Abschnitt zwischen Gerokstraße und Florian-Geyer-Straße hat noch den alten Namen. Zwischen der Striesener und der Canalettostraße nennt sie sich Georg-Nerlich-Straße.