بشر » “Wir sind sehr zufrieden” – Die Geschwister Pollok

eingestellt am 22.02.2020 von Philine Schlick, zuletzt geändert am 09.07.2020

Porträt von Philine Schlick, 2020

Renate und Rosemarie Pollok aus Annaberg im Erzgebirge sind unzertrennliche Schwestern. Sie gingen zusammen zur Lehre und leben seit 1974 in einem der weithin sichtbaren Wahrzeichen des Viertels: Einem der “Johannstädter Wolkenkratzer” mit weitem Blick ins Land. Sie blicken zurück auf ein Leben voll harter, aber erfüllender Arbeit und viele kleine Momente, die zusammen Zufriedenheit ergeben. Im anschließenden Text ist das Gesagte von Rosemarie Pollok kursiv gekennzeichnet.

Ich bin Renate Pollok und das ist meine Schwester Rosemarie Pollok. Wir sind seit 1959 in Dresden, kommen aber eigentlich aus Annaberg im Erzgebirge. Wir haben Krankenschwester gelernt, und haben hier 1959 in der Medizinischen Akademie gearbeitet, waren aber vorher noch in Schwerin […]

Renate Pollok

Ich war 27 Jahre auf der Unfallstation. Ich war 27 Jahre Stationsschwester in der Neurochirurgie. […] Das waren beides schwere Stationen. Meine Schwester hatte ja die größte Station in der Chirurgie. Und danach haben wir dann noch drei Jahre, vier Jahre in der Poliklinik gearbeitet. Wir wollten etwas ruhigeres. Ich war auf der Gynäkologischen. Nun, und dann bin ich nochmal hoch – ich bin ja etwas jünger wie meine Schwester – ins Clara-Zetkin-Heim gegangen. Das war auch nochmal gut. Ich war auch für alte Leute zuständig. Wir treffen uns auch immer noch mal mit den Kollegen und so. Wir haben uns also sehr gut verstanden.

100 Kinder!

Na ja, und nach Johannstadt sind wir 1974 gezogen. Die Häuser sind ja alle 1974 gebaut worden und das ist also Erstbezug hier gewesen für uns – und hier sind wir auch geblieben. Wir hatten erst eine Dreiraumwohnung, die war hier direkt gegenüber, weil wir unsere Eltern von Annaberg zu uns geholt haben. Da hatten meine Eltern Wohn- und Schlafzimmer gehabt und wir hatten eben das große, das nannte sich Kinderzimmer. […]

Meine Eltern haben dann neun Jahre lang bei uns gewohnt. Dann starben sie beide, kurz hintereinander. Für uns war es keine leichte Zeit, denn wir waren beide Stationsschwestern und haben dann nur noch halbtags gearbeitet – teilweise ich auch Nachtwache – und haben dann erst mal unsere Positionen abgegeben. Wir hatten aber sehr verständige Vorgesetzte. Da haben wir das zwei Jahre gemacht – die Mutti starb ja dann auch – und sind dann nochmal in unseren Beruf paar Jahre gegangen.

Und haben eben von Anfang an in diesem Haus gewohnt. Es ist ja so, als wir hier rein zogen – das waren alles junge Familien. Wir waren so mit  Abstand mit die Ältesten. Ich war Anfang 40, als wir hier rein zogen – und 100 Kinder! Es war erstaunlich. Und jetzt sind nur noch zwei Kinder.

Na ja, dann war ja die Wende und jeder konnte hinziehen, wo er wollte. Was er bevorzugte … Und nun ziehen ausschließlich Rentner hier rein. Wegen der Fahrstühle. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis auf unserem Flur. Es hat sich ja mehr oder weniger immer auf die Flure bezogen, diese Bekanntschaft oder wie soll man sagen – Nachbarschaft! Ja. […]

Ich meine, wir klingeln schon mal. Nicht aus Neugier, sondern um zu wissen, wie es so geht. Ich bin jetzt 88 gewesen, meine Schwester 86. Wir sind auch nicht die Jüngsten. Aber wir versorgen uns eben noch im Allgemeinen selbst. Wir fühlen uns eben hier wohl, weil die Atmosphäre im Haus war schon immer gut. Auch mit den anderen, die wir getroffen haben.

Wissen Sie, das ist ja so: Sie treffen sich ja nicht im Hausflur. Sie treffen sich nur im Fahrstuhl. Hier läuft ja keiner. Und da ist das unangenehm, wenn man so im Fahrstuhl steht und nichts miteinander spricht. Und wenn in den letzten Jahren welche reinzogen, die vielleicht nicht wussten, wie sie sich „zu benehmen haben“, wenn ich das mal so ausdrücken darf (lacht), da habe ich immer gegrüßt! Und die haben sich das dann auch angenommen. Und was redet man? Wetter oder so. Und so sind wir mit einigen aus dem Haus bekannt. Wir haben immer mal gesprochen.

Rosemarie Pollok

Meine Verwandten, Neffen und Nichten, haben immer gesagt: „Wie ist denn das bei euch? Seht ihr euch überhaupt?“ Wir haben hier nie Schwierigkeiten gehabt. Dass es hier Zoff gegeben hätte, daran kann ich mich nicht entsinnen. Und die Wohnungsgenossenschaft, das macht viel aus […]

Wir sind ja Altmieter. Da hat sich ja so gut nichts verändert. Aber nach der Wende war es natürlich anders geworden. Zu DDR-Zeiten haben wir für die Dreiraumwohnung 114 Mark bezahlt. Und diese Wohnung kam, glaube ich, 75 Mark. Das muss man sich mal überlegen. […]

Es ist alles anders geworden

Es sind leider in den letzten Jahren auch etliche gestorben. Oder sind ins Heim. Es ist dann schon … wenn dann wieder einer wegfällt, mit dem man sich gern unterhalten hat … Das ist dann schon … Na ja.

Aber wie gesagt, wir sind hier drin schon immer sehr zufrieden. Auch 1999, wo wir hier die große Sanierung hatten. Da sind natürlich ein paar raus gezogen, weil es ihnen zu viel war. Und da wurden wir gefragt: „Können wir Ihnen den Schlüssel geben – bloß, dass Sie mal gucken? Ja, du liebe Zeit. Da haben wir nun gucken müssen. Und mittags hieß es dann: „Was war denn los?“ Da mussten wir dann berichten von den Handwerkern. […]

Wir waren in zwei Wanderkreisen von der Gemeinde aus. Sehr schön! Sehr, sehr schön! Bis letztes Jahr. Jetzt gehen wir an der Elbe spazieren. […] Dann sind wir noch im Seniorensingkreis von der Gemeinde. Als wir dann in Rente sind, sind wir in die Seniorenakademie und da haben wir viel gemacht. Wir waren in Vorlesungen viel – Kunst und so was. In Ausstellungen gehen wir auch heute noch sehr gerne. Da haben wir diese Jahreskarte – das ist immer etwas Schönes! Das konnten wir ja alles in unserem Beruf nicht. Und wo wir unsere Eltern da hatten sowieso nicht. Da hatten wir zu tun und kamen nicht mehr raus. Aber wir sind natürlich auch verreist. Ausland und alles.

Blick aus dem Hochhaus in Richtung Neustadt. Die Schwestern schätzen besonders die Nähe zur Elbe.

Wir haben jedes Jahr eine Urlaubsreise gemacht. Schöne Reisen! Nach der Wende natürlich. Aber ich muss auch sagen, wir sind auch zu DDR-Zeiten in die ganzen Bruderländer … Ich war zweimal in der UdSSR. In Polen waren wir dann zusammen. Dann waren wir in der Tschechei, in Ungarn, Rumänien, in Bulgarien. […] Wir waren große Anhänger der Ostsee. Ich muss Ihnen sagen, ich bin einmal an der Nordsee gewesen, mich brächte niemand mehr an die Nordsee! An der Ostsee, die ganzen Städte, die haben ja so schönes Hinterland mit den Wäldern und so … An der Nordsee ist das ja alles nicht so. Und diese Gezeiten! Ich hatte mal eine Brieffreundin zu DDR-Zeiten, die hat mich eingeladen. Wo man noch rüber konnte, in den 50er Jahren […]

Wir hatten immer guten Kontakt zur Familie. Wenn wir Geburtstag haben, sitzt alles voll vom Haus, die Gratulanten. Die freuen sich, wenn sie uns sehen! […]

Es muss eine gewisse Distanz sein

Ich bin 1946 aus der Schule gekommen. Ich habe erst fünf Jahre Schneiderin gelernt – drei Jahre gelernt, zwei Jahre als Gesellin. Unsere Tanten waren Schneidermeisterinnen. Und da hab ich gelernt, aber es war mir dann nichts … Dann haben wir gelernt. Wir waren immer zusammen. Ich war zwei Jahre in der Kinderkrippe – und da ist sie dann mitgekommen. Dann sind wir zusammen zur Schule gegangen. Ich wollte beizeiten Krankenschwester werden. Ich war mit irgendwas im Krankenhaus, Scharlach oder so. Und dann habe ich die Puppen auf‘s Sofa gelegt und so wie Krankenhaus gespielt. Krankenschwester war eben dann unser Beruf – unsere Berufung besser gesagt. […]

In Annaberg haben wir Abendschule besucht. Wenn wir Spätdienst hatten, sind wir um acht zum Unterricht gegangen zwei Stunden oder dann vom Unterricht direkt in die Nachtwache gegangen. Wenn man jung ist, kann man noch sowas machen.

Es war ja ein Kreiskrankenhaus und wir durften damals noch viel machen. Es gab ja keine Ärzte. Blutübertragung. Wenn ich mir das heute überlege! Wir haben Blutübertragung gemacht, vom Spender zum Patient. Und den Studenten was beigebracht, was die noch nicht wussten. Magenspülung und sowas. […] Ich war ja dann schon Anfang zwanzig und dann sind wir erst einmal drei Jahre nach Schwerin gegangen. Wir wollten noch einmal richtig weg. Zum Leidwesen unserer Eltern. Aber dann sind wir zurück gekommen nach Dresden, das war dann günstig. Da konnten sie uns besuchen. […]

Wir hatten erst in der Schwesternschule auf der Tittmannstraße gewohnt. Und auf der Prager Straße wurde dann als erstes Gebäude die Wohnzeile gebaut, und dort hatten wir eine Wohnung. Die war schön, ach, was glauben Sie, was wir da für einen Besuch hatten! Es war ein schönes großes Wohnzimmer und ein sieben Meter langer Balkon über die ganze Wohnung. Und eine Küche, das war natürlich der Clou, da hatten wir rote Sprelacart-Möbel. […]

Aufregend war die Sanierung des Hochhauses, als es eine Zeit lang keinen Balkon und stattdessen jede Menge Lärm gab. Foto: Philine Schlick

Wir sind dann ausgezogen wegen der Eltern. Die Wohnung hier haben wir über den Betrieb bekommen. Wir hatten uns schon beworben auf eine AWG-Wohnung, weil wir schon im Auge hatten, dass wir die Eltern zu uns nehmen wollten. Und nach einem Jahr war der Antrag weg. Dann ging‘s aber los! Dann hat mein Professor, der Professor der ganzen Klinik, die Oberschwester – die haben alle drei an die WGJ geschrieben.

In vier Wochen hatten wir den Bescheid. Es kam natürlich darauf an: Wenn Sie sich gut benommen haben im Arbeitsbereich, dann kriegten sie was. Es war dann so, dass wir gesagt haben: Entweder wir kriegen die Wohnung, oder wir gehen nach Annaberg. Und da ging das dann. Der Professor Wolf, der war damals von der ganzen Chirurgie, der hat gesagt: „Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass ihr nach Annaberg geht! Ihr bleibt hier, ich werde dafür sorgen.“ Ich meine, das war eben damals noch möglich. Das war eine andere Verbindung auch zu den Oberen. Auch auf Station: Mit meinen allen Schwestern – ich wurde ja dann auch älter und es kamen jüngere dazu – ich war mit allen per Sie und das hat so prima geklappt! Und sie auch mit mir.

Als ich dann gegangen bin, hat meine Nachfolgerin – mit der ich mich auch gut verstanden habe – gedacht, sie müsse das jetzt ändern und hat mit allen per du gemacht, sogar mit den Ärzten. Was denken Sie denn, wie die eingebrochen sind? Das geht einfach nicht! […] Zumindest nicht in diesem Beruf. Es muss eine gewisse Distanz sein. […] Wir möchten die Zeit nicht missen. Es war eine harte Zeit im Dienst, die Arbeitsweise auch, aber trotzdem.

Ohne Buch kann ich nicht leben

Wir haben hier eine gute Anbindung mit dem Einkaufen. War ja hier – man sagte ja immer die „Modrowhalle“ – der Konsum und da haben wir alles gekriegt. Am Bönischplatz war ein kleiner Gemüseladen, das war auch okay. Nach der Wende, wo dann die kleinen Gemüsebudchen aufmachten und ihr eigenes Zeug mitbrachten, das war natürlich auch schön. Die Doris Schuch, die jahrelang da war, ist ja dieses Jahr weg … Die hat ja aufgehört wegen Krankheit. Das bedauern wir sehr […] Ich muss so oft an die Doris denken und kein Mensch hat eine Telefonnummer, dass man mal anrufen könnte. […] Ich hatte damals auch mit ihr geredet, was geändert werden könnte und sie sagte auch: Wochenmarkt, den brauchen wir unbedingt! […] Die Leute haben sich ja nun an Aldi und so weiter gewöhnt, weil es preiswert ist. Es gibt ja auch viele, die kleine Renten haben. Die wollen dann natürlich auch preiswert einkaufen. Die werden in unserem Alter auch nicht mehr nur Wert auf die Gesundheit legen. Wir sind ja nun in einem Alter, wo wir irgendwann einmal gehen werden. […]

Das ganze Flair hier ringsum – wir können uns über nichts und wollen uns auch über nichts beklagen. Wir fühlen uns einfach hier wohl. Wenn ich manchmal aus der Stadt komme, bin ich richtig froh, wenn ich hier bin. Wenn man so lang hier wohnt – das ist dann eben was Ganzes, in dem man hier wohnt. Und dann trifft man laufend Leute. Man kommt manchmal kaum aus der Kaufhalle raus oder rein, schon trifft man wieder jemanden. In Berlin sagen sie: Unser Kiez. Das empfinden wir hier. Wir möchten nicht woanders wohnen. […] Dieser furchtbare Bau, der jetzt an der Sparkasse stattfindet, der ist natürlich gewöhnungsbedürftig. […]

Blick vom Balkon zum benachbarten Hochhaus.

Wir wünschen uns Gesundheit und dass wir lange noch zusammen bleiben. […] Unser Seniorensingkreis ist auch schön. Der Kantor ist sehr gut, den haben wir seit drei, vier Jahren. Der hat gutes Geschick mit „alten Damen“ – wir sind, wenn wir alle da sind, vierzehn. Wir haben nur zwei Männer. Es fällt ja immer mal wieder jemand weg. Im Altenheim haben wir gesungen oder zur Seniorenweihnachtsfeier. Das letzte Mal, da hat er uns so nett gelobt. Er sagte: „Also wissen Sie, wenn ich Ihnen das so sage, das machen Sie auch so! Das kann ich ja nicht einmal in meinem Kirchenchor verlangen!“ Das ist nur mal so eine Kleinigkeit – freut man sich schon drüber. Ich will mal sagen, wir haben ja auch eine Disziplin gelernt. Und die ist geblieben. Das hängt mit dem Beruf zusammen.

Wir hatten ein nettes, liebes Zuhause gehabt. Die Mutti war immer da. Unser Vati hatte eine Süßwarenhandlung, das war im Haus. Der musste nirgendwohin gehen. Mutti hat manchmal mitgeholfen und wir haben auch Sachen weggebracht … Unser Vater war gut, aber auch streng. Wir haben manchmal unsere kleine Schwester geschickt: Geh mal zum Vati runter und guck mal, ob er uns was gibt. Aber dafür hat die Mutti dann gesorgt. Natürlich denkt man immer mal an die Heimat und je älter man wird, desto öfter denkt man dran. […]

Wir lesen ja noch viel. Ohne Buch kann ich bis jetzt noch nicht leben. Ich lese gern Biografien von berühmten Frauen. […] Bauhaus war jetzt unser Thema. Wir sind sehr große Anhänger vom Bauhaus. Wir waren auch mit der Seniorenakademie in Dessau – das war sehr schön. Da gibt es jetzt ein neues Buch über die Frau von Gropius – die ist ja gar nicht in Erscheinung getreten, obwohl sie alles für ihn gemacht hat. Das Buch ist recht gut geschrieben. Ich habe es – leider – auch schon wieder fertig gelesen. […]